Die soziale Klebekraft des Lehms

11.03.2025 | Gemeinsame Erde

Werkelnde Kinder und staunende Passant/innen verschmelzen in der Bahnhofspassage Wilhelmsburg zu einem großen Wimmelbild, wenn der Bunte Kuh e.V. jeden Sommer für sechs Wochen seine Lehmbaustelle öffnet. Der in Hamburg weithin bekannte gemeinnützige Verein ist seit vielen Jahren in sozial benachteiligten Hamburger Stadtteilen aktiv und setzt mit seinen kostenlosen und niedrigschwelligen Baukunst-Aktionen auf eine breite Teilnahme aus allen Milieus. Groß und Klein kommen hier zusammen, um gemeinsam bis zu vier Meter hohe Skulpturen aus Lehm zu formen.

Sobald der Verein Bunte Kuh e.V. im Sommer seine Zelte im flächenmäßig größten Stadtteil Hamburgs aufschlägt, türmen sich schon bald beeindruckende Baukunstwerke vor dem Bahnhof Wilhelmsburg, der zentralen Verkehrsader des schnell wachsenden Stadtviertels zwischen Norder- und Süderelbe. Dann bringen sich nicht nur die Menschen aus Wilhelmsburg – auf dem Weg zur Bahn oder zum gegenüber der Baustelle gelegenen Einkaufszentrum – spontan ein und greifen zum bereitgestellten Sand-, Schluff- und Ton-Gemisch. Durch die gezielte Einladung von Gruppen aus verschiedenen Stadtteilen waren vom ersten Tag im August 2024 bis zur feierlichen Präsentation im September etwa 7.000 Menschen von Blankenese bis Billstedt auf der Baustelle aktiv und formten mit vielen Händen bis zu vier Meter große Figuren aus Lehm.

Dabei entstehen Bauwerke, die sich sehen lassen können: beispielsweise ein riesiges Ohr, eine Schildkröte, eine Kletterburg, ein antikes Tor und sogar ein Dinosaurier. Die Bauphase endet alljährlich mit einem großen Fest, bei dem die neuen Skulpturen bewundert und Besucher/innen wie Baumeister/innen mit Speisen aus dem Lehmofen versorgt werden. In einer anschließenden Ausstellungswoche werden die Kunstwerke der Öffentlichkeit präsentiert und abschließend bestaunt, beschritten und beklettert.

Nepomuk Derksen, Gründer und Leiter des partizipativen Baufestivals, ist sich sicher, dass das Bearbeiten des Materials Lehm mit den Händen auch eine tiefere gesellschaftliche Wirkung entfalten kann. So biete das Aufeinandertreffen von Menschen aus verschiedenen Milieus die Möglichkeit zur »gleichzeitigen kreativen Erkundung individueller und sozialer Identitäten«. Das gemeinsame Bauen mit Lehm schaffe »immaterielle und materielle Räume der Begegnung«. 

Darüber hinaus trage das Projekt, so Derksen, auch zu einer Milderung der »Folgeschäden der Pandemie aus den Erfahrungen von Vereinsamung, Ohnmacht, fehlender Resonanz und Bewegungsmangel bei benachteiligten Kindern, Jugendlichen und deren Familien durch die Erfahrungen eigener Wirksamkeit« bei. Es gehört zudem zu den Grunderfahrungen des Projekts, das auf der Lehmbaustelle spontan neue Arbeitsbündnisse entstehen, die soziale und Altersgrenzen überschreiten. Die gemeinsame Arbeit am Lehm verbindet, davon ist Derksen nach vielen Jahren Praxis überzeugt.  

Im Mai und Juni 2025 startet die nächste Bauphase des Projekts. Aus dem recycelten Lehm des Vorjahres wird dann in Wilhelmsburg erneut ein Ort entstehen, an dem Selbstwirksamkeit durch gemeinschaftliches Handeln greifbar wird.

Bilder: © Karen Derksen, Bunte Kuh e.V.